«Elara! Hilf mir!» Meine Mutter lag gefesselt in einer Höhle und schrie nach mir. Ihre Augen waren rot, sie blutete an verschiedenen Stellen und ihre Jeans war total zerrissen. Ihr T-Shirt war voller Schlammflecken und von Salzwasser verkrustet. Plötzlich begann sich die Höhle zu regen. Das war keine Höhle! Das war ein Drache!
Ich kam keuchend wieder zu mir. Was zum Hades war das? Eine Art Vision? Eine Zukunftsvision? Apollo sagte doch, dass ich nicht in die Zukunft blicken könnte. Oder war das eine Einbildung?
Vorsichtig stand ich auf. Ich war nicht mehr im Garten. Ich war in einem dunklen Raum. Mein Hirn schaltete automatisch und ich begann zu singen. Langsam erhellte sich der Raum und ich summte leise weiter. Wo war ich? Neben mir lagen ein Köcher mit einem einzigen Pfeil und ein Bogen, ein Schwert sowie eine Jeans, ein T- Shirt, eine Lederjacke und Stiefel. Auf dem Kleiderhaufen war ein Zettel.
Die Prüfungen haben begonnen
Das Liebste wurde dir genommen
Du sollst es finden zum Gewinnen
Die Zeit wird am 7. Tag verrinnen
Prüfungen? Gewinnen? Liebste wurde dir genommen? Eine Woche Zeit? Das war eine Prüfung! Bei der ich etwas suchen musste. Das, was mir am liebsten war. Hatte das etwas mit meiner Vision zu tun? Ich musste meine Mutter finden!
Ich zog mich an, schnallte mir den Köcher auf den Rücken und nahm den Bogen in die Hand.
Als ich die Tür öffnete zuckte ich zurück. Da lag ein Mädchen im Schlafanzug. Ihre feuerroten Haare kringelten sich um ihren Kopf und es sah so aus, als ob sie brennen würde. Neben ihr lag, so wie bei mir, ein Kleiderhaufen mit einem Zettel. Doch sie hatte keine Pfeile und keinen Bogen, sondern zwei Schwerter.
«Hey» Mit einem leisen Aufschrei drehte ich mich um und legte einen Pfeil an die Sehne. Wer war das? Und wieso konnte ich plötzlich mit Pfeil und Bogen umgehen? Das musste ebenfalls zur Magie von Halbgöttern gehören.
«Ich bin Bruce Zeusaleum. Wer bist du?» Bruce trug, so wie ich, Jeans, T- Shirt, Lederjacke und Stiefel. Er hatte einen Speer in der Hand und ein Schwert, das in der Scheide an seinem Gürtel hing. «Ich bin Elara Apollona. Weisst du, wer das ist?» Ich deutete mit meinem Bogen auf das rothaarige Mädchen. Er schüttelte den Kopf. «Nein, aber sie wird unsere Partnerin. Wir müssen zu dritt unser Liebstes Ding finden. Ihr Vater», er deutete auf die Rothaarige «ist vermutlich Hypnos, der Gott des Schlafes.» Er lachte und stupste das schlafende Mädchen vorsichtig mit dem Fuss in die Seite. Sie zuckte zusammen, sprang noch mit geschlossenen Augen auf, schnappte sich das Schwert und hieb Bruce in den Arm, worauf der zurücktaumelte. Nun wandte sie sich mir zu, doch ich hob abwehrend die Hände. «Heyheyhey! Alles okay. Wir sind ein Team in dieser Prüfung. Wir sind ja Halbgötter, das gehört also wahrscheinlich zu einem Einstufungstest oder so.» Bruce schrie hinter mir wie am Spiess vor Schmerzen. «Helft mir doch!» Er hatte sich sein T- Shirt um den Arm gewickelt, doch das Blut troff immer noch auf den Boden. Hastig nahm ich seinen Arm in die Hand. Laut Apollo hatte ich ja Heilkräfte. Doch was sollte ich tun? Musste ich bei anderen Menschen etwas sagen? Verzweifelt konzentrierte ich mich auf Bruces Wunde. Aus meinen Händen glühte es silbern auf und der Blutfluss stoppte. Vorsichtig zog ich ihm sein T- Shirt weg und legte meine silbern funkelnden Hände auf den tiefen Schnitt. Meine Hände strahlten immer mehr, bis ich sie wegnahm. Bruce wischte das Blut auf seinem Arm mit seinem T- Shirt weg und wir erstarrten. Die Wunde existierte nicht mehr. Ich hatte es geschafft! «Dad sei Dank» lachte ich angespannt. Noch wussten wir nicht, wer das rothaarige Mädchen war. Sie hatte immer noch ihr Schwert in der Hand. Zusammen mit den verwuschelten Haaren, ihrem starrem Blick und dem Schlafanzug war die ganze Situation mehr als lächerlich.
«Tut mir leid» Ihre Miene blieb weiterhin undurchschaubar, doch sie zeigte die Anzeichen für ein Lächeln. «Ich bin Zoey. Zoey Poseidonam.» Ihr Vater war also Poseidon. Bruces Vater war Zeus und meiner Apollo. Na super. Dann stand ich im Rang vermutlich unter ihnen.
«Wir sollten los. Unten gibt es Frühstück. Dann müssen wir unsere Rucksäcke packen und lossuchen.» Bruce lief wieder in den Gang und ich folgte ihm. Zoey zog sich rasch um und als sie rauskam liefen wir bis zur vierten Tür. Dahinter war eine grosse Halle in der gegessen wurde. Alle sassen in Dreiergrüppchen beisammen und redeten heftig aufeinander ein. Teams, die schon fertig gefrühstückt hatten, schulterten ihre Rucksäcke und liefen durch die schwarze Flügeltür auf der rechten Seite der Halle. Bruce lief zielstrebig aufs Büfett zu und langte ordentlich zu. Zoey und ich folgten ihm zögerlich. Woher wusste er was wir tun mussten? Und wieso hatten uns alle, die vor uns in der Schlange vor dem Büfett standen, vorgelassen?
Mit Croissants, Nutella und Orangensaft bewaffnet, setzte ich mich neben Zoey und gegenüber von Bruce an unseren Tisch. Ich biss erst mal zu und spülte mit Orangensaft nach. Das Essen war echt gut! «Also» Bruce hatte schon ein ganzes Croissant gegessen?! «Ihr fragt euch bestimmt, woher ich so gut informiert bin.» Ich nickte, Zoey trank Orangensaft. «Das liegt daran, dass ich im Internat aufgewachsen bin. Das hier ist das Internat Olympia und jedes Jahr kommen etwa fünfzig Halbgötter hierher die dann hier aufwachsen. Die beiden anderen Drittel des Jahrgangs wachsen bei ihren sterblichen Eltern auf und kommen erst für die erste Prüfung hierher. Jeder Internatsschüler darf sich zwei Teammitglieder aussuchen. Da ich Zeus’ Sohn bin konnte ich mir die mächtigsten Halbgötter sichern.» Er lächelte. «Ihr zwei. Elara, Tochter des Apollo und Zoey, Tochter des Poseidon. Wir werden die Prüfung bestehen. Und wir werden die Besten sein! Wir sind zusammen die drei mächtigsten Halbgötter des Jahrzehnts. Zeus, Poseidon und Hades haben nur etwa alle zehn Jahre ein Kind, wobei du, Zoey, ja einen Bruder hast. Apollo hat ein paar Kinder mehr, aber in unserem Jahrgang bist du, Elara, die einzige Tochter von Apollo. Sogar die einzige innerhalb von fünf Jahren. Was bei Apollo schon merkwürdig ist. Wenn ich darüber nachdenke, haben sich die Götter im letzten Jahrzehnt echt zurückgehalten.» Er grinste. Und ich musste erst mal schlucken. Das waren gerade echt viele Informationen auf einmal.
Zoey stand auf. «Wir sollten los, denke ich.» Am Büfett holten wir uns die Rucksäcke, die mit unserem Namen beschriftet waren und gingen dann auf die Flügeltür zu.
Die Aussicht war unbeschreiblich! Sie waren auf dem höchsten Berg in der Umgebung und konnten kilometerweit sehen. Berggipfel, Täler, Seen, Flüsse und Wälder.
«Hat irgendjemand ´ne Ahnung wo wir hinmüssen?» Zoeys Frage war berechtigt. Bruce schüttelte den Kopf. Beide schauten mich an und ich überlegte. «Naja. Ich hatte einen Traum» Bruce nickte aufmunternd, Zoey zog die Augenbraue hoch. «Ein Traum?» Ihr Grinsen verging ihr als Bruce erklärte: «Da Elaras Dad Apollo ist, kann es schon sein, dass sie Visionen hat. Aber du hast doch schon die Heilkräfte und kannst super mit dem Bogen umgehen?» Ich lächelte verlegen. «Ich habe auch eine magische Stimme. Und ob das mit dem Bogen nicht einfach nur Zufall war, weiss ich auch noch nicht.» Zoeys Gesicht war fabelhaft verdattert. «Das heisst du hast etwa vier verschiedene Kräfte? Ich habe nur zwei! Wasser kontrollieren und für eine halbe Stunde ohne Luft auszukommen. Was für Fähigkeiten hast du Bruce?» Er grinste, dann brauste ein Wind herbei der so stark war, dass wir in die Luft flogen. Aber nicht etwa unkontrolliert, nein. Wir flogen wirklich. «Ich kann die Winde kontrollieren und herbeirufen. Zudem übe ich gerade anderen Lebewesen die Luft aus der Lunge zu drücken. Zoey du solltest mal versuchen jemandem das Wasser aus dem Körper zu entziehen. Und Elara, du musst das mit dem Bogen herausfinden.» Langsam liessen uns die Winde zurück zur Erde gleiten. Irgendwie war ich ganz froh, wieder festen Boden unter den Füssen zu haben. «Siehst du den Vogel da oben?» Zoey deutete auf einen Adler, der über uns seine Kreise zog. Ich nickte. «Schiess ihn ab», forderte Bruce jetzt auch. Ich sollte einen unschuldigen Vogel abschiessen? Andererseits war es schon wichtig zu wissen, ob ich mit Pfeil und Bogen umgehen konnte oder nicht.
Ich legte den Pfeil an, konzentrierte mich. Einmal tief einatmen. Beim Ausatmen liess ich den Pfeil los. Er flog schnurgerade auf den armen Adler zu. Eine Sekunde später knallte er tot zu Boden. «Wow» Bruce starrte mich mit offenem Mund an und Zoey grinste. «Da haben wir ja auch schon eine zweite Kriegerin im Team» lachte sie. Ich atmete auf. Ich war im Falle eines Kampfes wohl auch brauchbar. Denn als der Adler zu Boden knallte wurde mir etwas klar. Wenn es die Götter gab, die Halbgötter nur bewaffnet rumliefen, dann mussten auch die Monster aus der Mythologie, die keine Mythologie war, leben. Dann würde auch meine Vision, wie Bruce sie nannte, Sinn ergeben. Denn dann könnte das schlangenartige Ding, das meine Mutter gefangen hielt, der Erzfeind von Apollo sein. Phyton. «Wir müssen nach Delphi. Meine Mutter und zwei Kinder werden da von Phyton gefangen gehalten!» Bruces Mund öffnete sich erneut und Zoey sog scharf Luft ein. «Du willst nach Delphi? Zum Orakel von Delphi?» Ich nickte. «Wir müssen meine Mutter und die beiden Kinder retten. Denkt ihr die zwei Kinder, ein Junge mit blauen Haaren und ein Mädchen mit blonden Haaren sind eure Geschwister?»
Die beiden nickten. Bruce stammelte zuerst: Ich habe keine Geschwister. Es könnte jedoch meine einzige Cousine mütterlicherseits sein.» Er wandte sich mir zu «Hatte sie eine violette Strähne?» Ich nickte zögernd. «Jetzt wo du es sagst. Die Vision war halbdunkel und ich dachte zuerst, dass es vielleicht Dreck oder so ist. Aber ja, sie hatte eine Strähne.» Bruce’ Gesicht bekam einen schmerzlichen Ausdruck. «Ja, das wird mein kleiner Bruder sein.», sagte Zoey und verdrehte die Augen. «Er wollte unbedingt, dass ich ihn rette. Aber wenn deine Mutter von Apollos Erzfeind gefangen gehalten wird, würde es Sinn ergeben, wenn mein Bruder von Poseidons Erzfeind gefangen gehalten werden würde.» Sie grinste teuflisch. Bruce, der sich sehr taff gab, eigentlich aber ein Angsthase war, zuckte vor Schreck zusammen. Bruce hatte, obwohl er eine gute Ausbildung bekommen hatte, tierische Angst vor einem richtigen Kampf gegen ein Monster.
«Aber, aber Poseidons Erzfeind ist Okeanos! Der ist sogar noch zerstörerisch als Poseidon. Und der Erzfeind von Zeus? Ist das dann Thypon oder wer?» Zoey grinste noch breiter. «Bruce du Idiot. Gemäss Elaras Vision wissen wir ja schon, dass mein Bruder, deine Cousine und Elaras Mutter in Delphi sind. Das heisst wir müssen nur Phyton besiegen.»
«Nur Phyton? Sagtest du nur Phyton? Dir ist bewusst das Phyton selbst von Apollo nur schwer zu besiegen war, oder? Bruce’ Gesicht verdüsterte sich. «Wir müssen sie retten. Alle drei! Wir sind hier mitten in den Rocky Mountains. Ich weiss, ihr mögt das Windreisen vermutlich nicht so, das tun die wenigsten. Also könnten wir zu Fuss gehen. In etwa drei Wochen wären wir an der Küste. Dann müssten wir noch nach Griechenland. Wenn wir uns von den Winden tragen lassen, könnten wir schon morgen früh in Vancouver sein.» Ich nickte. Sooo schlimm war das Windreisen nun auch wieder nicht. Doch Zoey sah aus wie eine Seekranke. Ihr Gesicht verfärbte sich grünlich und sie schnappte nach Luft. «Nie mehr! Ich werde nie mehr windreisen.» Bruce seufzte, worauf Zoey in wütend anfauchte. «Keine Sorge, Bruce. Ich werde schon nachkommen. Siehst du die Gewitterwolken hinter den Gipfeln? Ich werde mir einen Wasserball formen und noch vor euch in Vancouver sein.» Sie atmete tief ein und aus, hob die Arme und ich quietschte auf. Es goss wie aus Kübeln. Die Regentropfen peitschten umher und schlugen hart wie Hagelkörner gegen meine Haut. Bruce hatte sich mit seinen Winden geschützt, doch ich konnte nicht Singen da die Regentropfen sofort in meinen Mund hämmerten. Vor ein paar Sekunden wurde mir Zoey gerade sympathischer, das war jetzt vorbei. Denn sie grinste als sie mein empörtes Gesicht sah. Wütend ballte ich die Fäuste. Und zuckte zusammen. Ein Feuerball schoss auf Zoey zu, kam wegen des Regens jedoch nur ein paar Zentimeter, bevor er erlosch.
«Nicht gut genug, Elara Apollona», Zoey grinste spöttisch.
War ich das? Hatte ich auch noch Feuerkräfte? Ich konzentrierte mich, so wie beim Heilen von Bruce’ Wunde. Meine Hände verkrampften sich, doch ich fokussierte mich weiter auf das Feuer. Ich spürte Wärme und formte damit einen kleinen Ball. Er erlosch sofort wieder. Und der Regen klatschte weiterhin gegen mich. Zoey grinste belustigt. «Hast du nicht mehr drauf?» Meine Wut entfachte erneut und ich wusste instinktiv was ich zu tun hatte. Als ich mit meinem Fuss aufstampfte, zischte es laut. Wasser prallte gegen Feuer.
Ich hatte ein Feuerschild erschaffen.
Zoey grinste immer noch und ich wollte ihr zeigen, dass ich besser war, also hob ich die Hände auf Brusthöhe und fing an zu singen. Meine magische Stimme und die Feuermagie verflochten sich. Dann explodierte alles. Das letzte, was ich sah, war, wie Zoey schreiend zu Boden sank.
Bild: Bruce Zeusaleum illustriert von Mia
Text: Selina