Ein Gastbeitrag von Aline
Sechs Jahre am Gymnasium sind eine lange Zeit. Manchmal scheint sie endlos, Jahr um Jahr vergeht, die Matura ist zwar im Hinterkopf, aber dort bleibt sie die meiste Zeit auch sicher verstaut. Man hat ja schliesslich noch genug Zeit für alles. Alles, was an der Matura und nach diesen sechs Jahren geschehen soll. Hier möchte ich aus dieser Übergangsphase erzählen und wohin sie mich Stand heute geleitet hat.
Dieses «alles» ist dubios, es schwebt über mir, begleitet mich seit mindestens Anfang der vierten Gymnasialklasse – ich habe mich für einen Schulwechsel an die EMS entschieden, um Vorbereitungen auf dieses «alles» zu treffen. Bis weit in die sechste Klasse hinein war ich überzeugt, eine Karriere als klassische Musikerin verfolgen zu wollen; dafür brauchte ich die Vorkenntnisse aus dem Schwerpunktfach Musik. So weit, so gut. Die Vorstellung war ein Anker für mich, wenn immer die Kolleg:innenüber Zwischenjahre und unsichere Studienpräferenzen, dieses «alles» nach der Matura, diskutierten, fühlte ich mich irgendwie sicher. Sie überlegen sich noch mögliche Destinationen, ich habe bereits das Flugticket inklusive Absicherung gebucht, ausgedruckt und stehe mit gepackten Koffern am Gate. Oder so ähnlich.
Im Nachhinein betrachtet finde ich es schade, so lange auf dieses sichere Gefühl vertraut zu haben. Denn Anfangs des zweiten Semesters der sechsten Klasse hinterlassen merkwürdige, unangenehme Probelektionen an Hochschulen sowie mühsame Onlinebewerbungen mit einer negativen und einer sehr späten positiven Rückmeldung einen bitteren Nachgeschmack dieses sicheren Gefühls. Mir wird klar, dass ich diesen Weg so nicht mehr einschlagen möchte. Was nun? Naja, mein vermeintlich sicheres Flugticket muss wohl umgebucht werden. Neues Ziel: Universität Zürich.
Während den Lernferien vor der schriftlichen Matura ist es schliesslich so weit. Meine Wahl ist gefallen; ich habe mich für die Kombination aus Germanistik im Hauptfach und Skandinavistik im Nebenfach entschieden. Natürlich nicht zufällig, denn beide Fächer habe ich unter anderem an einem Informationstag der Uni während der vierten Klasse besucht. Auch in der Schule, vor allem im Deutschunterricht und im Freifach Journalismus, ist mir je länger je mehr klar geworden, wie sehr mich Arbeit an und mit Texten fasziniert. Viel zu lange habe ich das als eines von vielen Interessen abgetan, die meinem vermeintlichen Traum der Musikkarriere nur im Weg ständen. Während ich mich also durch die verschiedenen Seiten und Portale der Universität navigiere, um mich zu immatrikulieren, fühle ich mit jedem Klick, dass das die richtige Entscheidung ist. Ich gehe mit Zuversicht an die Maturaprüfungen, die Sicherheitskontrolle auf dem Weg zum neuen Gate. Unangenehme Formalia, alle sind nervös – obwohl die meisten nichts zu befürchten hätten.
Bleibt man noch ein wenig bei diesem Flughafen-Vergleich, ist der Sommer zwischen Matura und Studienbeginn wie der Gang durch unzählige Duty-free-shops, Cafés und Wartehallen. Ein letzter Zwischenstopp, bevor es so richtig losgeht. Frühere Kolleg:innen werden verabschiedet, sie machen sich zu anderen Gates auf, haben andere Flüge gebucht. Vielleicht setze ich mich in der Halle ans Fenster und schaue ihren Maschinen nach, schaue auf die Uhr, warte auf mein Boarding, kontrolliere unzählige Male meine Papiere – Immatrikulation, Semestergebühren, der unter Mühen selbst erstellte Stundenplan, Modulbuchung, Mietvertrag der ersten WG, Daten der Erstsemestrigentage. Das «alles» hat Kontur, Form und Farbe erhalten.
Kurze Zeit später, ready for take off. Die erste Studienwoche drückt mich mit all ihren Eindrücken voller Kraft in den Sitz. Wo sind die Seminarräume? Welche Bücher müssen wir wirklich anschaffen? Was bitte ist OLAT? Fragen über Fragen, die mit den neuen Mitstudierenden geklärt werden. Man findet sich zusammen, bildet neue Freundeskreise – Menschen, die für einen da sind, sei es in Sachen Studium oder die immer mühsameren Probleme in der WG. Und bevor man sich’s versieht, ist man gemeinsam gelandet – an der Universität, mitten im Studi-Alltag. Man trifft sich in einer dunklen WG-Küche irgendwo hinter der Hardbrücke und isst gemeinsam Pasta mit Sosse, verbringt viele Stunden im Begegnungsraum des Deutschen Seminars und versucht ab Mitte Dezember verzweifelt, die Prüfungsangst in Schach zu halten – es gibt viele Ereignisse, die uns zusammengeschweisst haben.
Das neue Semester startet bald, ich erwarte es mit zwar mit Vorfreude, aber auch Gelassenheit. Vorerst bin ich gelandet, wo ich mich wohlfühle und weitere Richtungsänderungen immer noch möglich sind. Was mich die Übergangsphase zwischen Matura und Studium rückwirkend am meisten gelehrt hat: Dieses Bewusstsein für so viele unterschiedliche Richtungen und Möglichkeiten möchte ich nie wieder verlieren. Ich finde es gut, eine Option zu wählen und diese verfolgen zu wollen, lasse mich aber immer wieder gerne mit Menschen aus anderen Richtungen auf Gespräche und Horizonterweiterung ein. Schliesslich finde ich den eigenen Flug auf der Anzeigetafel nur neben allen anderen, niemand wird individuelle Beschilderung für mich bereitstellen.
Meine neue WG befindet sich übrigens in unmittelbarer Flughafennähe, wo ich jeden Tag einen Strom von Reisenden, ein Kommen und Gehen, Willkommen und Abschied miterleben darf. Statt einem neuen Gate bevorzuge ich nun vorerst die Zuschauerterrasse.